Zechen, Staub und Kohle, dieses Image haftet dem Ruhrgebiet noch immer an. Doch es ist falsch, denn die Region hat sich zu einer der interessantesten Deutschlands gemausert.
„Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt ist es besser, viel besser, als man glaubt“, das hat Herbert Grönemeyer schon 1984 seinen Fans auf Vinyl und von der Bühne zugerufen und wurde damit ein erster Botschafter der Region, die damals das Sorgenkind der Nation war.
Stahlkrise, Zechensterben, Strukturwandel sind Attribute, die auch noch heute mit dem Ruhrgebiet assoziiert werden.
Staubig ist die Sonne dort schon lange nicht mehr, es ist grün, die Natur erobert sich Industriebrachen zurück, stillgelegte Bahntrassen werden zu modernen Radwegen, Stahl- und Zechenanlagen in Event- und Erlebnisparks umgebaut.
Das Revier erfindet sich neu, ohne dabei seine Kultur zu vergessen. Es ist in Bewegung, lebendig und kreativ. Vielleicht nicht auf den ersten Blick. Doch es lohnt sich, genauer hinzusehen und zu erleben, weshalb das Ruhrgebiet zu den spannendsten Gegenden Deutschlands gehört.
Kiosk, Büdchen und Trinkhallen gehören zum Ruhrgebiet wie Hochöfen, Currywurst und Fußball. Mit dem 1. Tag der Trinkhallen wurden sie in diesem Sommer in der gesamten Region gefeiert. Grund genug, einige genauer unter die Lupe zu nehmen.
Europas größter Binnenhafen ist in Duisburg. Eine Erfolgsgeschichte, die im Stadtteil Ruhrort begann, einem Bezirk, in dem sich beispielhaft die Industriegeschichte des Ruhrgebiets spiegelt. Eine Spurensuche.
Der geplante Radschnellweg Ruhr soll den täglichen Verkehrsinfarkt auf den Autobahnen des Ruhrgebiets reduzieren. Mit diesem Projekt ist das Ruhrgebiet Vorreiter in Deutschland. Zwei Teilstücke sind schon befahrbar.
Kippen, Klümpchen, Klönen • Büdchenkult im Ruhrgebiet
Kiosk, Büdchen und Trinkhallen gehören zum Ruhrgebiet wie Hochöfen, Currywurst und Fußball. Es ist die Geschichte einer großen Liebe, die vor rund 150 Jahren begann und trotz des Büdchensterbens hoffnungsvoll in die Zukunft blickt.
Im Ruhrgebiet stößt man statistisch alle sieben Minuten auf ein Büdchen. Nirgendwo in der Bundesrepublik gibt es eine höhere Dichte, nirgendwo ist seine Kultur so eng mit der Identität einer ganzen Region verknüpft. Und wie alles im Ruhrgebiet, hängt auch das Büdchen mit Bergbau und Stahlindustrie zusammen.
Sieben Minuten dauert es, bis man von der stillgelegten Zeche Hannover in Bochum zur Magdeburger Straße in Wanne Eickel gelangt und vor Elkes Bude steht.
Ein einfaches Häuschen am Rande eines Feldes, in dem man alles bekommt, was ein ordentlicher Ruhrgebiets-Kiosk so führt: Zeitungen, Zigaretten, Kaffee, Bier und die berühmte „gemischte Tüte“, die nach Wünschen der meist jungen Kunden von Hand mit Colafläschchen, Lakritz und Brausestangen gefüllt wird.
Seit 1978 beobachtet Elke Joachimsmeier von hier den Wandel im Viertel. Ruhig sei es geworden, nachdem Anfang der 1970er Jahre die Zeche geschlossen wurde. „Früher gab es hier einen Lebensmittelladen, Metzgerei und Bäcker, eine Drogerie und eine Kneipe“, sagt Joachimsmeier. „Alle haben sie nach und nach pleite gemacht“.
Die Bude bleibt
Geblieben aber ist der Kiosk und mit ihm sein Publikum. Elkes Kiosk ist Treffpunkt, ein Ort des Austauschs und Marktplatz im Quartier. Viele Kunden sind über die Jahrzehnte Freunde der 62jährigen geworden, wie die fünf Frauen, die seit Jahren gemeinsam ihre Hunde ausführen und anschließend auf Kaffee und Zigarette zu Elke gehen.
Ein tägliches Ritual, bei Wind und Wetter. „Es ist zwar nicht die modernste Bude, aber die beste der Welt“, sagt Silke Schümann. „Hier ist Familie, hier hören wir Neuigkeiten, teilen Freude und Kummer“. Fast jeder ist per Du.
Wenn die verwitwete Kioskbesitzerin Hilfe benötigt, ist schnell jemand da, der einspringt. Und dennoch ist es ein Knochenjob. Zwölf Stunden verbringt sie täglich in ihrem Büdchen und kommt so eben über die Runden. Zusätzliches Geld spült der jährliche Verkauf von Holzschnitzereien auf dem Düsseldorfer Weihnachtmarkt in die Kasse. Doch jetzt will sie kürzer treten.
Drei Jahre noch, dann soll es vorbei sein mit Elkes Büdchen. Silke Schümann und ihre Freundinnen sehen das anders. „Wir werden sie hier anketten“, droht Schümann „Elke und die Bude bleiben“. Darüber wird es wohl noch Diskussionen geben.
Von der Seltersbude zum regionalen Kulturgut
Mit der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Trinkhallen als Seltersbuden. Ursprünglich sollten sie die Arbeiter mit ausreichend Wasser versorgen und den Alkoholkonsum eindämmen. Vor Zechen, Eisenhütten, Stahlwerken und in Arbeitersiedlungen schossen Trinkhallen wie Pilze aus dem Boden.
Nach und nach kamen zu den Getränken kleine Speisen wie Soleier, eingelegte Heringe und Gurken. Büdchen wurden zu beliebten Anlaufstellen vor und nach der Schicht. Zum großen Ärger der benachbarten Gasthäuser und Kneipen, die um ihre Kundschaft fürchteten.
Dann ihr Boom in den 1960er Jahren. Die klassischen Tante Emma-Läden hatten den Kampf gegen die übermächtigen Supermärkte verloren. Viele Budenbesitzer erweiterten ihr Sortiment um Lebensmittel und füllten die Lücke. Dank der langen Öffnungszeiten kamen Kunden für ein abendliches Bierchen und Last-Minute-Käufe.
Das änderte sich mit dem Niedergang der Schwerindustrie. In den 1980er Jahren schlossen Berg- und Stahlwerke ihre Tore und viele Trinkhallen konnten sich nicht mehr halten. Heute konkurrieren sie mit Supermärkten und Tankstellen, die mit der Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes mindestens ebenso lange wie Büdchen geöffnet haben.
Echte Überlebenskünstler
Und doch sind sie noch da. Nach Schätzungen gibt es weit über 10.000 im Revier. Sie sind zum Mythos geworden, zu einer Welt realer Begegnungen, ganz jenseits von Facebook und Co. Auf wenigen Quadratmetern, zwischen Süßigkeiten und Tabak, bildet sich Tag für Tag ein gesellschaftlicher Mikrokosmos, authentisch und für den Augenblick klassenlos.
Ein offenbar zeitgemäßes Konzept, das auch junge Leute anzieht. Wie den jungen Studenten Philipp Eckershoff, der im vergangenen Jahr Duisburgs älteste Bude im Stadtteil Ruhrort übernommen hat. Ab 1905 wurden aus dem Kiosk mit der auffälligen blauen Holzfassade Matrosen und Kapitäne des naheliegenden Freihafens mit Getränken versorgt.
Seitdem hatte der Kiosk einiges zu überstehen, den Bombenhagel des zweiten Weltkriegs, den Sturm Kyrill 2006, der eine schwere Platane aufs Kioskdach krachen ließ. Trotzig hielt die blaue Fassade stand.
„Der Vorbesitzer war unser Nachbar“, erzählt der 24jährige, „und als er sich zurückzog, war mir schnell klar, dass ich den Kiosk übernehme“. Der angehende Literaturwissenschaftler wurde zum Jungunternehmer. Einen Großteil seiner Kunden kennt er von Kindesbeinen an. „Ich habe etwa 60 Prozent Stammkundschaft“, betont er zufrieden. Wenn die Uni ruft, springen seine Eltern für ihn ein.
Im Retro-Look
Auch das Ehepaar Mauermann hat mit einem Büdchen am Marktplatz in Castrop-Rauxel den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt. Lange haben sie gezögert, den fünf Jahre leer stehenden Laden zu übernehmen.
Dann entschieden sich die beiden eingefleischten Rockabilly-Fans, einen Kiosk im Stil der 1950er Jahre zu eröffnen.
Seit Juli 2015 gibt es die BonBonBude, die sich mit ihrer Einrichtung im poppigen Rosa deutlich von anderen Kiosken unterscheidet. Bunte Blechschilder, Bonbons aus Glasdosen, Waffeln, Cheesecake und Besitzer, die im fünfziger Jahre Look gekleidet sind.
„Besonders stolz sind wir auf unsere Theke aus dieser Zeit. Sie stand noch 60 Jahre lang in einem Tante Emma-Laden in Süddeutschland“, sagt Ralf Mauermann, der den Kiosk tagsüber alleine führt und den Schülern der benachbarten Schule morgens Getränke und Süßigkeiten, mittags Bockwurst mit Brötchen verkauft.
„Der finanzielle Aspekt stand bei uns nicht im Vordergrund“, betont der gelernte Maurer.
Noch hat seine Frau ihren Vollzeitjob nicht aufgeben, sie hilft abends und am Wochenende. Doch wenn sich der Büdchenkult im Ruhrgebiet weiter fortsetzt, kann sich schnell ändern.
INFOS Besonderer Tipp: In Bochum bietet der Schauspieler Giampiero Piria eine Kioskwallfahrt durch den Stadtteil Hamme an, die das Phänomen Kiosk im Kontext von städtebaulichen, historischen und sozialen Zusammenhängen zeigt (www.bochum-tourismus.de).