Zechen, Staub und Kohle, dieses Image haftet dem Ruhrgebiet noch immer an. Doch es ist falsch, denn die Region hat sich zu einer der interessantesten Deutschlands gemausert.
„Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt ist es besser, viel besser, als man glaubt“, das hat Herbert Grönemeyer schon 1984 seinen Fans auf Vinyl und von der Bühne zugerufen und wurde damit ein erster Botschafter der Region, die damals das Sorgenkind der Nation war.
Stahlkrise, Zechensterben, Strukturwandel sind Attribute, die auch noch heute mit dem Ruhrgebiet assoziiert werden.
Staubig ist die Sonne dort schon lange nicht mehr, es ist grün, die Natur erobert sich Industriebrachen zurück, stillgelegte Bahntrassen werden zu modernen Radwegen, Stahl- und Zechenanlagen in Event- und Erlebnisparks umgebaut.
Das Revier erfindet sich neu, ohne dabei seine Kultur zu vergessen. Es ist in Bewegung, lebendig und kreativ. Vielleicht nicht auf den ersten Blick. Doch es lohnt sich, genauer hinzusehen und zu erleben, weshalb das Ruhrgebiet zu den spannendsten Gegenden Deutschlands gehört.
Kiosk, Büdchen und Trinkhallen gehören zum Ruhrgebiet wie Hochöfen, Currywurst und Fußball. Mit dem 1. Tag der Trinkhallen wurden sie in diesem Sommer in der gesamten Region gefeiert. Grund genug, einige genauer unter die Lupe zu nehmen.
Europas größter Binnenhafen ist in Duisburg. Eine Erfolgsgeschichte, die im Stadtteil Ruhrort begann, einem Bezirk, in dem sich beispielhaft die Industriegeschichte des Ruhrgebiets spiegelt. Eine Spurensuche.
Der geplante Radschnellweg Ruhr soll den täglichen Verkehrsinfarkt auf den Autobahnen des Ruhrgebiets reduzieren. Mit diesem Projekt ist das Ruhrgebiet Vorreiter in Deutschland. Zwei Teilstücke sind schon befahrbar.
Im Ruhrgebiet gibt es viel Spektakuläres zu entdecken. Hier die Top 5 unserer Lieblingsplätze.
Landschaftspark Duisburg-Nord
Unter den vielen stillgelegten Industrieanlagen im Ruhrgebiet gehört der Landschaftspark Duisburg-Nord zu den beeindruckensten.
Das ehemalige Hüttenwerk im Duisburger Stadtteil Meiderich wurde 1985 geschlossen und 1994 als Multifunktionspark für Besucher eröffnet.
Heute präsentiert sich das 180 Hektar große Gelände als Abenteuerspielplatz für alle Altersgruppen. Das alte Gasometer wurde geflutet und zum Tauchsportzentrum umgebaut, die Gießhalle beherbergt einen Hochseilparcours, in den Werkshallen finden Kulturveranstaltungen statt und in den Erzlagerbunkern gibt es alpine Klettergärten. Eine lebendige Industriebrache, die jährlich über eine Million Besucher anzieht. www.landschaftspark.de
Zeche Zollern
Die Zeche Zollern im Dortmunder Stadtteil Bövinghausen ist nicht die größte, aber mit Abstand die schönste Zeche im Ruhrgebiet. Und das war durchaus beabsichtigt, denn das Bergwerk wurde in den 1870er Jahren, zu Zeiten der industriellen Hochkonjunktur, als Musterzeche gebaut.
Eine Zeche als Showroom, der Investoren von deutscher Baukunst und Elektrotechnik überzeugen sollte.
Das Ensemble mit den verzierten Backsteinfassaden, dem Jugendstilportal der Maschinenhalle und der prunkvollen Ausstattung der Lohnhalle lassen heute fast vergessen, daß dort ab 1873 tonnenweise Kohle gefördert wurde.
Seit September ist die Maschinenhalle nach langer Renovierungszeit wieder geöffnet. Vom Leben „unter Tage“ wird im angeschlossenen Museum erzählt. www.lwl.org
Margarethenhöhe
Die Wohnsiedlung Margarethenhöhe im Süden von Essen ist untrennbar mit dem Namen Margarethe Krupp verbunden.
Sie führte nach dem Tod ihres Mannes Friedrich Alfred Krupp (1902) die Geschäfte der florierenden Fabrik für Gussstahl und gründete 1904 die gemeinnützige „Margarethe-Krupp-Stiftung für Wohnungsfürsorge“.
Mit der Siedlung Margarethenhöhe, die als erste deutsche Gartenstadt gilt und sicherlich zu den schönsten gehört, sollte bezahlbarer Wohnraum für Krupp-Mitarbeiter und Geringverdiener geschaffen werden. Die Siedlung verfügte für die damalige Zeit über einen modernen Standard, geräumigen Wohnungen samt sanitären Einrichtungen und Garten.
Es ist eine der außergewöhnlichsten Ausstellungshallen überhaupt: das Gasometer in Oberhausen. Ab 1929 wurde in dem 117 Meter hohen Speicher Gas aus den benachbarten Eisenhütten gespeichert, um es nach Bedarf an die naheliegenden Kokereien zur Befeuerung ihrer Anlagen abzugeben.
Im Zuge der Stahl- und Kohlekrise musste das Gasometer 1988 den Betrieb einstellen. Schon sechs Jahre später öffnete das umgebaute Gasometer seine Tore für Events und Ausstellungen.
Auch Verpackungskünstler Christo war bereits zu Gast und nutzte fast die gesamte Höhe des Innenraums für sein Kunstobjekt „Big Air Package“. Raumerlebnisse der besonderen Art bestimmen die wechselnden Ausstellungen. Wer den Pott von oben sehen will, fährt mit dem gläsernen Fahrstuhl bis aufs Dach. www.gasometer.de
Deutsches Bergbaumuseum
Bergbau hautnah erleben, das bietet das Deutsche Bergbaumuseum in Bochum. Schon von weitem ist das 71,4 Meter hohe Fördergerüst zu erkennen, das ursprünglich in der Schachtanlage Germania in Dortmund stand.
Nach deren Schließung wurde der 650 Tonnen schwere Stahlkoloss in Einzelteile zerlegt, mit Spezialtransportern nach Bochum gebracht und dort im mühevoller Arbeit wieder aufgebaut. Ein Meisterstück der Logistik. Auf die Aussichtsplattform gelangt man mit einem Fahrstuhl. Nicht unbedingt für Menschen mit Höhenangst, doch es entschädigt ein grandioser Blick.
Spektakulär ist die virtuelle Fahrstuhlfahrt in eine Bergwerk, untermalt mit Videoeinspielungen und Akustik. Angekommen im Anschauungsbergwerk werden auf 2,5 Kilometer Länge die Arbeit im Stollen und das Leben unter Tage eindrucksvoll gezeigt. www.bergbaumuseum.de
Kippen, Klümpchen, Klönen • Büdchenkult im Ruhrgebiet
Kiosk, Büdchen und Trinkhallen gehören zum Ruhrgebiet wie Hochöfen, Currywurst und Fußball. Es ist die Geschichte einer großen Liebe, die vor rund 150 Jahren begann und trotz des Büdchensterbens hoffnungsvoll in die Zukunft blickt.
Im Ruhrgebiet stößt man statistisch alle sieben Minuten auf ein Büdchen. Nirgendwo in der Bundesrepublik gibt es eine höhere Dichte, nirgendwo ist seine Kultur so eng mit der Identität einer ganzen Region verknüpft. Und wie alles im Ruhrgebiet, hängt auch das Büdchen mit Bergbau und Stahlindustrie zusammen.
Sieben Minuten dauert es, bis man von der stillgelegten Zeche Hannover in Bochum zur Magdeburger Straße in Wanne Eickel gelangt und vor Elkes Bude steht.
Ein einfaches Häuschen am Rande eines Feldes, in dem man alles bekommt, was ein ordentlicher Ruhrgebiets-Kiosk so führt: Zeitungen, Zigaretten, Kaffee, Bier und die berühmte „gemischte Tüte“, die nach Wünschen der meist jungen Kunden von Hand mit Colafläschchen, Lakritz und Brausestangen gefüllt wird.
Seit 1978 beobachtet Elke Joachimsmeier von hier den Wandel im Viertel. Ruhig sei es geworden, nachdem Anfang der 1970er Jahre die Zeche geschlossen wurde. „Früher gab es hier einen Lebensmittelladen, Metzgerei und Bäcker, eine Drogerie und eine Kneipe“, sagt Joachimsmeier. „Alle haben sie nach und nach pleite gemacht“.
Die Bude bleibt
Geblieben aber ist der Kiosk und mit ihm sein Publikum. Elkes Kiosk ist Treffpunkt, ein Ort des Austauschs und Marktplatz im Quartier. Viele Kunden sind über die Jahrzehnte Freunde der 62jährigen geworden, wie die fünf Frauen, die seit Jahren gemeinsam ihre Hunde ausführen und anschließend auf Kaffee und Zigarette zu Elke gehen.
Ein tägliches Ritual, bei Wind und Wetter. „Es ist zwar nicht die modernste Bude, aber die beste der Welt“, sagt Silke Schümann. „Hier ist Familie, hier hören wir Neuigkeiten, teilen Freude und Kummer“. Fast jeder ist per Du.
Wenn die verwitwete Kioskbesitzerin Hilfe benötigt, ist schnell jemand da, der einspringt. Und dennoch ist es ein Knochenjob. Zwölf Stunden verbringt sie täglich in ihrem Büdchen und kommt so eben über die Runden. Zusätzliches Geld spült der jährliche Verkauf von Holzschnitzereien auf dem Düsseldorfer Weihnachtmarkt in die Kasse. Doch jetzt will sie kürzer treten.
Drei Jahre noch, dann soll es vorbei sein mit Elkes Büdchen. Silke Schümann und ihre Freundinnen sehen das anders. „Wir werden sie hier anketten“, droht Schümann „Elke und die Bude bleiben“. Darüber wird es wohl noch Diskussionen geben.
Von der Seltersbude zum regionalen Kulturgut
Mit der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Trinkhallen als Seltersbuden. Ursprünglich sollten sie die Arbeiter mit ausreichend Wasser versorgen und den Alkoholkonsum eindämmen. Vor Zechen, Eisenhütten, Stahlwerken und in Arbeitersiedlungen schossen Trinkhallen wie Pilze aus dem Boden.
Nach und nach kamen zu den Getränken kleine Speisen wie Soleier, eingelegte Heringe und Gurken. Büdchen wurden zu beliebten Anlaufstellen vor und nach der Schicht. Zum großen Ärger der benachbarten Gasthäuser und Kneipen, die um ihre Kundschaft fürchteten.
Dann ihr Boom in den 1960er Jahren. Die klassischen Tante Emma-Läden hatten den Kampf gegen die übermächtigen Supermärkte verloren. Viele Budenbesitzer erweiterten ihr Sortiment um Lebensmittel und füllten die Lücke. Dank der langen Öffnungszeiten kamen Kunden für ein abendliches Bierchen und Last-Minute-Käufe.
Das änderte sich mit dem Niedergang der Schwerindustrie. In den 1980er Jahren schlossen Berg- und Stahlwerke ihre Tore und viele Trinkhallen konnten sich nicht mehr halten. Heute konkurrieren sie mit Supermärkten und Tankstellen, die mit der Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes mindestens ebenso lange wie Büdchen geöffnet haben.
Echte Überlebenskünstler
Und doch sind sie noch da. Nach Schätzungen gibt es weit über 10.000 im Revier. Sie sind zum Mythos geworden, zu einer Welt realer Begegnungen, ganz jenseits von Facebook und Co. Auf wenigen Quadratmetern, zwischen Süßigkeiten und Tabak, bildet sich Tag für Tag ein gesellschaftlicher Mikrokosmos, authentisch und für den Augenblick klassenlos.
Ein offenbar zeitgemäßes Konzept, das auch junge Leute anzieht. Wie den jungen Studenten Philipp Eckershoff, der im vergangenen Jahr Duisburgs älteste Bude im Stadtteil Ruhrort übernommen hat. Ab 1905 wurden aus dem Kiosk mit der auffälligen blauen Holzfassade Matrosen und Kapitäne des naheliegenden Freihafens mit Getränken versorgt.
Seitdem hatte der Kiosk einiges zu überstehen, den Bombenhagel des zweiten Weltkriegs, den Sturm Kyrill 2006, der eine schwere Platane aufs Kioskdach krachen ließ. Trotzig hielt die blaue Fassade stand.
„Der Vorbesitzer war unser Nachbar“, erzählt der 24jährige, „und als er sich zurückzog, war mir schnell klar, dass ich den Kiosk übernehme“. Der angehende Literaturwissenschaftler wurde zum Jungunternehmer. Einen Großteil seiner Kunden kennt er von Kindesbeinen an. „Ich habe etwa 60 Prozent Stammkundschaft“, betont er zufrieden. Wenn die Uni ruft, springen seine Eltern für ihn ein.
Im Retro-Look
Auch das Ehepaar Mauermann hat mit einem Büdchen am Marktplatz in Castrop-Rauxel den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt. Lange haben sie gezögert, den fünf Jahre leer stehenden Laden zu übernehmen.
Dann entschieden sich die beiden eingefleischten Rockabilly-Fans, einen Kiosk im Stil der 1950er Jahre zu eröffnen.
Seit Juli 2015 gibt es die BonBonBude, die sich mit ihrer Einrichtung im poppigen Rosa deutlich von anderen Kiosken unterscheidet. Bunte Blechschilder, Bonbons aus Glasdosen, Waffeln, Cheesecake und Besitzer, die im fünfziger Jahre Look gekleidet sind.
„Besonders stolz sind wir auf unsere Theke aus dieser Zeit. Sie stand noch 60 Jahre lang in einem Tante Emma-Laden in Süddeutschland“, sagt Ralf Mauermann, der den Kiosk tagsüber alleine führt und den Schülern der benachbarten Schule morgens Getränke und Süßigkeiten, mittags Bockwurst mit Brötchen verkauft.
„Der finanzielle Aspekt stand bei uns nicht im Vordergrund“, betont der gelernte Maurer.
Noch hat seine Frau ihren Vollzeitjob nicht aufgeben, sie hilft abends und am Wochenende. Doch wenn sich der Büdchenkult im Ruhrgebiet weiter fortsetzt, kann sich schnell ändern.
INFOS Besonderer Tipp: In Bochum bietet der Schauspieler Giampiero Piria eine Kioskwallfahrt durch den Stadtteil Hamme an, die das Phänomen Kiosk im Kontext von städtebaulichen, historischen und sozialen Zusammenhängen zeigt (www.bochum-tourismus.de).
Kioskwallfahrt mit Giampiero Piria in Bochum Hamme
Füher wurden Buden von Arbeitsinvaliden und Witwen betrieben. Heute sind viele in türkischer oder griechischer Hand
Typischer Pott-Kiosk
Verwaistes Büdchen in Bochum Hamme
In der neuen Bochumer Trinkhalle Kulturbeatz werden Büdchen-Traditionen gelebt
Sogar einen Kicker gibt es
Fotos: Bettina Hagen
Wir müssen noch sexy werden
Der Autor und Kabarettist Frank Goosen ist mit seinen Bestsellern zum Kultautor des Ruhrgebiets geworden. Mit Radio Heimat ist gerade ein zweites Werk verfilmt worden. ABSOLUT TRAVEL sprach mit ihm über die Dreharbeiten und Imageprobleme seiner Heimat.
Am 17. November kommt mit Radio Heimat in der Regie von Matthias Kutschmann ihr zweiter Film in die deutschen Kinos. Waren Sie in die Dreharbeiten involviert?
Nein, das habe ich auch diesmal dem Profi überlassen. Ich war einmal zu Besuch beim Dreh, habe mich da aber zurückgehalten, weil es nichts Schlimmeres gibt, als wenn jemand, der eigentlich keine Ahnung, ständig seinen Senf dazu gibt. Ich habe aber das Drehbuch vorab gelesen, und Matthias hat mir schon sehr früh einen Rohschnitt des Films gezeigt, von dem ich sehr angetan war.
In Radio Heimat beschreiben Sie das überholte Kohle-Kumpel-Malocher-Klischee, das dem Ruhrgebiet nach wie vor anhaftet. Gleichzeitig wird genau das mit Aktionen wie dem 1. Tag der Trinkhallen, der in diesem Sommer gefeiert wurde, bedient. Wie haben Sie den Tag erlebt?
Ich habe auf dem Sofa gesessen und gelesen. Abends war ich auf einem fünfzigsten Geburtstag eingeladen. Ich finde es nicht schlimm, dieses Klischee dann und wann zu bedienen. Jede Identität basiert auf vergangenen Erfahrungen. Unsere Vergangenheit von Kohle, Stahl und Selterbude macht uns einzigartig, so wie der Hafen die Hamburger und die Almen die Bayern. Es ist nur wichtig, auf dieser Basis einen Dreh in die Zukunft zu finden.
Der Regionalverband Ruhr hat gerade die Ergebnisse eine Imagestudie veröffentlicht, in der die Befragten das Ruhrgebiet als traditionsbewusst, authentisch und zupackend beschrieben haben. Andere Gegenden Deutschlands bekamen die Attribute modern, innovativ und weltoffen. Ärgert Sie das?
Ich denke mal, auch Bayern wird man durchaus als traditionsbewusst ansehen. Tatsächlich aber gelten wir nach außen immer noch nicht als kreatives Ideenlabor. Das wir zum Teil durchaus sind. Sich über so ein Image zu ärgern bringt nichts. Das sollte Ansporn sein, dieses Bild weiter zu korrigieren. Wir haben es selbst in der Hand. Wir sind schon arm, jetzt müssen wir nur noch sexy werden. So wie Berlin es mal war.
In Bezirken wie Duisburg Ruhrort oder im Dortmunder Kreuzviertel etabliert sich eine junge lebendige Kreativszene. Es ist viel in Bewegung. Wagen Sie eine Prognose? Wie wird das Ruhrgebiet in 15 Jahren aussehen?
Ich kann nur hoffen, dass es gelingt, dieses Potential weiter hier zu halten und dass diese Leute nicht alle irgendwann frustriert sind und doch wieder nach Hamburg, Berlin oder München abwandern.
Foto Goosen: philippwente.com
Radautobahn • Locker am Stau vorbei
Rund 700 Kilometer ausgeschilderte Radwege gibt es im Ruhrgebiet. Große Teile führen über stillgelegte Bahntrassen durch die ehemalige Industrielandschaft. Mit dem 100 Kilometer langen Radschnellweg Ruhr von Duisburg bis nach Hamm soll jetzt ein neuer Meilenstein gesetzt werden. Zwei Streckenabschnitte sind bereits befahrbar.
Mit dem Kürzel CR7 assoziiert man schnell den Weltfußballer Cristiano Ronaldo. Bei RS1 fällt einem deutlich weniger ein. Noch. Es steht für den Radschnellweg Ruhr, einem Prestigeprojekt des Landes Nordrhein-Westfalen, mit dem der tägliche Verkehrsinfarkt auf den Autobahnen des Ruhrgebiets reduziert werden soll.
Ein ehrgeiziges Projekt und nicht minder spektakulär. Etwas Vergleichbares gibt es zwar bei den holländischen Nachbarn, in Dänemark und der Schweiz, in der Bundesrepublik aber noch nicht.
Staufreies Städtehopping
Ziel ist es, Anwohner zu motivieren, sich nicht ins Auto, sondern auf das Rad zu setzen, um zur Arbeit oder zur Uni zu fahren. Etwa hundert Kilometer lang soll der neue Premium-Radweg werden und zehn Städte mit einander verbinden, darunter Metropolen wie Essen und Dortmund.
Zwei Drittel der Strecke verlaufen über ehemalige Bahntrassen, die sich wie ein verästeltes Adersystem durch das gesamte Ruhrgebiet ziehen und zu Zeiten des florierenden Bergbaus für den Transport von Kohle und Industriegütern genutzt wurden.
Radfahren deluxe
Im Rahmen des RS1-Projektes werden die Trassen renaturiert, statt Schienen wird es nun gut befahrbaren Asphalt, Fahrbahnmarkierungen, Orientierungs- und Entfernungstafeln sowie eine durchgängige Beleuchtung geben. Geplant sind außerdem Rast- und Service-Stationen mit WLAN-Hotspots.
„In diesem Sommer sind wir ein gutes Stück weiter gekommen“, sagt Jens Hapke vom Regionalverband Ruhr, „es wurde mit des Bau eines weiteren Streckenabschnitts bis zur Fachhochschule Ruhr West in Mülheim begonnen und der Bund hat das Projekt in die überregionale Verkehrsplanung aufgenommen. Das bedeutet, dass er es finanziell unterstützt“.
Nach der Machbarkeitsstudie des Landesministeriums für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr sollen mit dem RS1 täglich rund 50.000 PKW-Fahrten eingespart werden. Für 2020 ist die Einweihung geplant.
Noch verhandeln Bund, Land und Region über die Kostenaufteilung der veranschlagten 183 Millionen Euro. Doch es gilt als sicher, dass der Radweg gebaut wird.
Gehen die Pläne auf, kann der RS1 Modell und Vorbild für andere verkehrsstarke Regionen und Städte in Deutschland werden. Besonderer Tipp: Der Essener Aktiv-Touranbieter SimplyOut Tours bietet Radtouren durch das Ruhrgebiet an, unter anderem auch auf dem ersten Teilabschnitt des RS1, der auf der Trasse der stillgelegten „Rheinischen Bahn“ von der Essener Universität bis Essen-Frohnhausen führt. Die Tour folgt den Spuren der Industriellenfamilie Krupp, vom neuen Essener Kruppviertel über die Siedlung Margarethenhöhe bis zur Villa Hügel, dem ehemaligen Kruppschen Familiensitz. www.simply-out-tours.de
Der Reiz des Ruhrgebiets offenbart sich nicht immer auf den ersten Blick. Oft muss man genauer hinschauen, um seinen Lieblingsplatz zu finden. Wir stellen drei Bücher vor, die dabei helfen.
„Glücksorte im Ruhrgebiet“ heißt der Band der ehemaligen WAZ-Redakteure Tania Weimer und Thorsten Wellmann, in dem sie 80 bekannte und ausgefallene Orte im Ruhrgebiet präsentieren.
Die Stärke des Buchs liegt in der Auswahl, die von Ruhrgebiet-Blockbustern wie der Zeche Zollverein über das Gasometer in Oberhausen bis hin zu Insider-Tipps jenseits der touristischen Routen reicht.
Ob die 50er Jahre Filmbar in der Essener Lichtburg, die alte Gewürzmühle in Gelsenkirchen oder Grillkurse in Herten tatsächlich Glückgefühle auslösen, müssen die Besucher selbst entscheiden. Den Autoren ist jedenfalls ein inspirierendes und kurzweiliges Lesebuch gelungen.
Tanja Weimer/Torsten Wellmann
GLÜCKSORTE IM RUHRGEBIET
168 Seiten , mit Fotos
ISBN 978-3-7700-1568-9
Zwölf raue Routen zu Fuß durchs Ruhrgebiet verspricht Thomas Machoczek in seinem Buch „Weites Revier“, das gerade in der zweiten Auflage erschienen ist. Auch wenn das Ruhrgebiet keine Wanderregion im klassischen Sinne ist, setzt der Autor auf die entschleunigte Fortbewegung, die erst die für das Revier prägenden Brüche richtig spürbar werden lässt.
Und so nimmt er Leser und Wanderer mit auf Touren durch Industrie-Brachen, Arbeitersiedlungen und Landmarken der Industriekultur. Nicht auf direkten Wege, sondern über stillgelegte Trassen oder entlang von Kanälen und Schrebergärten.
Zu jeder Tour gibt es Streckenangaben, GPS-Koordinaten, Hinweise zum öffentlich Nachverkehr sowie kurze, aber fachkundige Infoblöcke zu den Sehenswürdigkeiten.
Thomas Machoczek
WEITES REVIER – Auf 12 rauen Routen zu Fuß durchs Ruhrgebiet
144 Seiten, mit Fotos
ISBN: 978-3-8375-1596-1
Weitgehend ohne Steigungen und fast autofrei sind die zwölf Radtouren, die Uwe und Christiane Ziebold in „Über alte Bahntrassen im Ruhrgebiet“ vorstellen.
Die Touren mit einer Länge von 22 bis 72 Kilometern führen zwischen Essen, Dortmund, Wuppertal und dem Kreis Viersen über stillgelegte Bahntrassen, die früher für den Transport von Kohle genutzt wurden. Renaturiert und ausgebaut, geben sie heute Einblicke in die Kultur- und Industriegeschichte des Reviers.
Im Infokasten vor jeder Tour werden Streckenlänge, Beschaffenheit und Schwierigkeitsgrad beschrieben, am Ende gibt Tipps für Sehenswürdigkeiten, Gastronomie und Fahrradservicestationen. GPS-Daten zum Download sind über die Homepage des Bachem Verlags abrufbar (www.bachem.de/verlag).
Uwe und Christian Ziebold
ÜBER ALTE BAHNTRASSEN IM RUHRGEBIET
128 Seiten, mit Fotos
ISBN: 978-3-7616-2935-2
Mit dem Erdbeer-Express nach Aranjuez
Spanische Erdbeeren sind fast ganzjährig in Deutschland zu kaufen, gelten aber als pestizidbelastetes und wenig aromatisches Massenprodukt. In der Madrider Autonomieregion Aranjuez besinnt man sich auf die traditionellen Wurzeln ihres Anbaus und hat jetzt eine Qualitätsoffensive gestartet.
Wenn es in den Sommermonaten die Temperaturen auf den Feldern rund um Aranjuez erbarmungslos bis auf 45 Grad klettern, hat Fernanado Alcázar alle Hände voll zu tun. Für ihn ist dann Hochsaison, denn der Landwirt baut auf einer Fläche von fünf Hektar Artischocken, grünen Spargel und vor allem Erdbeeren an. Letztere werden ihm fast aus der Hand gerissen.
Weniger ist mehr
„Ich führe inzwischen eine Warteliste“, sagt der 46-jährige, der sechs unterschiedliche Sorten im Angebot hat. Nicht ohne Grund, seine Erdbeeren sind süß und haben ein besonders intensives Aroma.
„Wir stellen Qualität nicht Quantität in den Vordergrund“, betont Alcázar, „unsere Erdbeeren reifen so lange in der Sonne bis auch die Spitzen rot sind“. Riesige Gewächshäuser, wie im Süden Spaniens üblich, sucht man bei ihm vergebens.
In der Hauptsaison erntet er mit seinen fünf Helfern rund 140 Kilo pro Tag. Eine lächerlich geringe Menge, verglichen mit den großen Betrieben im andalusischen Almeria, die wegen hohen Pestizideinsatzes, schlechter Arbeitsbedingungen und Gefahren für die Umwelt immer wieder in der Kritik stehen.
Die Gegend um Aranjuez, rund 50 Kilometer südlich der spanischen Hauptstadt, gilt als der Gemüsegarten von Madrid. Ihre Produkte genießen den Ruf als besonders hochwertig. Und das hat eine lange Tradition.
Königliche Genüsse
Doch es war nicht die Erdbeere, die Aranjuez über die Grenzen hinweg bekannt machte. Der Ort, in dem heute knapp 60.000 Einwohner leben, verdankte seinen Aufstieg dem Spanischen König Philipp II., der Mitte des 16. Jahrhunderts beschloss, in den fruchtbaren Tälern des Rio Tajo eine Sommerresidenz zu erbauen.
Zum prunkvollen Palacio Real kamen sukzessive üppige Lustgärten und Parkanlagen, die im 18. Jahrhundert unter Karl III. ein barockes Gesicht mit Springbrunnen, Skulpturen und Rabatten bekamen. Palast und Gärten zählen heute zum Unesco Weltkulturerbe und ziehen jährlich Tausende Besucher an.
Mit den Königsfamilien kam die gesamte fürstliche Entourage in die Residenz von Aranjuez, flanierte im Park oder vergnügte sich in üppig verzierten Barken und Gondeln auf dem Tajo. Der Hofstaat musste verpflegt werden und so ordnete der jeweilige Regent an, was die Bauern liefern sollten.
Da in adeligen Kreisen Erdbeeren als besondere Delikatesse galten, wurden sie auf Geheiß von Karl III. fortan auf den Feldern angebaut. Die sonnenverwöhnte Region bot ein ideales Klima für Früchte mit einem besonders intensivem Geschmack.
Auf der Schiene nach Madrid
1851 wurde die erste Bahnlinie zwischen Madrid und Aranjuez eröffnet. Sie brachte nicht nur den Adel schneller und bequemer in die Sommerfrische, sondern transportierte in umgekehrter Richtung Obst, Gemüse und Erdbeeren aus den Gärten in die Hauptstadt.
Ende des 19. Jahrhunderts verloren König und Adel das Interesse an Aranjuez, Badeurlaube am Meer kamen in Mode, Schloss und Parks hatten an Attraktivität verloren.
Geblieben aber ist die Bahnstrecke, auf der man noch heute im historischen „Erdbeerzug“, dem „tren de la fresa“, zur Königsresidenz und ihren Gärten fahren kann und zur Einstimmung frische Erdbeeren serviert bekommt.
Klasse statt Masse
Fernando Alcázar will an die Traditionen des Obst- und Gemüseanbaus anknüpfen und sich durch hochwertige Qualität von den großen südspanischen Agrarkonzernen absetzen. Die allerdings konnten sich seit den 1970er Jahren einen festen Platz in den Madrider Supermärkten sichern, nicht zuletzt durch ihre Billigangebote.
Alcázar interessiert das nicht. Er setzt auf Klasse statt Masse und das hat seinen Preis. Seine Erdbeeren werden ausschließlich in Feinkostläden und ausgewählten Restaurants angeboten und kosten fast doppelt so viel wie die aus anderen Landesteilen. Aber die Nachfrage ist groß, die Bauern können den Bedarf kaum decken. Denn nur noch 40 Produzenten gibt es in und um Aranjuez, deren Anbauflächen bei überschaubaren fünf bis zehn Hektar liegen.
Doch viele der kleinen Obst- und Gemüsebauern sehen genau darin ihre Chance. Unter dem Vorsitz von Fernando Alcázar hat sich vor eineinhalb Jahren ein Verband gegründet, mit dem Ziel, die Qualität durch Information, Austausch und engmaschige Kontrollen zu steigern. Mittelfristig wollen sie Obst und Gemüse aus Aranjuez als Marke mit eigenem Qualitätssiegel etablieren.
Auch wenn der Verband erst neun Mitglieder hat, knapp ein Viertel aller Obstbauern – der Anfang ist gemacht.
Sollten ihre Pläne aufgehen, könnten Erdbeeren aus Aranjuez ihren zweiten großen Triumph feiern. Nur nach Deutschland werden sie es nicht schaffen, denn die Produkte bleiben in der Region und werden auch dort verzehrt.
Fotos: Bettina Hagen
REISETIPPS
Anfahrt von Madrid
Aranjuez liegt 45 Kilometer südlich von Madrid. Die Fahrt mit dem Auto dauert etwa eine halbe Stunde, mit dem Regionalzug vom Bahnhof Atocha oder Chamartín 50 Minuten. Der Bahnhof liegt in Palastnähe.
Vom Busbahnhof Estación Sur de Autobuses de Madrid fahren etwa alle 15 Minuten Autobusse und benötigen rund 50 Minuten.
Der Erdbeerzug verkehrt von Mai bis Oktober an verschiedenen Wochenenden. Die genauen Termine gibt es unter www.esmadrid.com/de/der-erdbeerzug
Sehenswert
Palacio Real de Aranjuez: Im 16. Jahrhundert als kleine Sommerresidenz geplant wurde der Palast unter den Bourbonen im 18. Jahrhundert um zwei Flügel und den Ehrenhof zu einer großen Barockanlage erweitert. Auch der Innenbereich wurde mit Thronsaal, Porzellansalon Paradezimmer, Schlosskapelle und den privaten Wohnräumen der königlichen Familie prunkvoll ausgestattet.
Gruppenführungen durch die Prunksäle und Schlafgemächer und Audioguides gibt es auch auf Deutsch.
Jardín del Príncipe: Der Prinzengarten gilt als der schönste in Aranjuez. Er wurde 1763 vom französischen Gartenbaumeister Boutelou gestaltet. Der Park beherbergt das Museum der Königlichen Lustboote (Museo De Faluas Reales), wo die königlichen Gondeln ausgestellt sind und das Lustschloss Casa del Labrador.
Altstadt: Lohnenswert ist ein Bummel durch die barocke Altstadt. Auf der Calle Capitán Angosto Gómez Castrillón locken Geschäfte und Boutiquen zum shoppen, nicht weit entfernt liegt die historische Markthalle, in der man unter anderem Erdbeeren und grünen Spargel aus der Region kaufen kann.
Essen
El Rana Verde, c/ Reina, 1, 28300 Aranjuez, www.elranaverde.com
Familienbetrieb, direkt am Ufer des Tajo. Traditionelle spanische Küche. Unbedingt die Ochsenbäckchen probieren.
Übernachten
NH Collection Palacio de Aranjuez, C/ San Antonio, 22, 28300 Aranjuez
4 Sterne Hotel in ehemaligem Adelspalast, gegenüber vom Weltkulturdenkmal Palacio de Aranjuez. Modern und zentrumsnah.
Lesenswert
Druckfrisch und voll mit Informationen über Sehenswürdigkeiten, Stadtviertel, Lebensart und gespickt mit Insidertipps ist der handliche Reiseführer aus dem Lonely Planet Verlag ein nützlichen Begleiter für den nächsten Madrid Trip. Wenn auch Aranjuez etwas stiefmütterlich behandelt wird, so wird das durch die lesenswerten Kapitel zu Stadt- und Kulturgeschichte wieder gut gemacht. Viele gut recherchierte Empfehlungen zu Tapasbars, Restaurants, Clubs und Cafés. Mit herausnehmbaren Stadtplan.
Anthony Ham, Lonely Planet Reiseführer Madrid, 2. Auflage Mai 2016, ISBN-13: 978-3829721806
Europas größter Binnenhafen feiert Geburtstag. 1716 im heutigen Stadtteil Ruhrort gegründet bescherte er dem damals eigenständigen Städtchen einen rasanten Aufschwung. Ende der 1950er Jahre begann der Niedergang. Heute erfindet sich der Ort neu und setzt vor allem auf die Kreativszene. Ein Ortsbesuch.
Als am 16. September 1716 der Ruhrorter Magistrat den Bau eines Hafens beschloss, konnte er nicht ahnen, dass er damit den Grundstein für Europas größten Binnenhafen legte. Er wusste nicht, dass sich Ruhrort in den folgenden zwei Jahrhunderten zum florierenden Handelsplatz entwickeln würde und musste nicht mit ansehen, wie die Kohle-und Stahl-Krise ab Mitte des 20. Jahrhunderts die gesamte Region in einen Strukturwandel zwang, der bis heute nicht abgeschlossen ist.
Ruhrort hat ihn schmerzhaft zu spüren bekommen. Leere Ladengeschäfte in den Seitenstraßen gibt es noch immer, heruntergekommene Häuser, die seit Jahren verwaist sind. Und doch putzt sich der Stadtteil heraus, will den einstigen Wohlstand wieder glänzen lassen und zeigt in der Altstadt architektonisch ein erstaunlich geschlossenes Bild. Viele der reich verzierten Gründerzeitfassaden sind inzwischen restauriert, Parkanlagen in Schuss gebracht, historisierende Laternen aufgestellt, die Hafenpromenade gestylt.
Dies alles folgt einem Masterplan von 2009, der von der Stadt Duisburg und den lokalen Wirtschaftsunternehmen Haniel, Duisburg Hafen und Gebag initiiert wurde, um die Halbinsel im Rhein wieder zum attraktiven Wohn- und Arbeitsort zu etablieren.
Dennoch: Die Zeit um 1900, als es in Ruhrort eine höhere Millionärsdichte gab als in Berlin, man feudal einkaufen konnte und die neuste Mode bekam, ist passé. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als am Neumarkt, dem zentralen Herzstück des Bezirks.
Frau Itze zapft an
Es gab Zeiten, da tobte das Leben auf dem Neumarkt. Heute parken dort Autos, außer an den Markttagen. Aber auch dann sind es nicht mehr als drei bis vier Gemüsestände, die Waren anbieten. „Früher war der gesamte Platz belegt, jetzt ist es trostlos“, sagt Gerda Verbeck, besser bekannt als Frau Itze.
Genannt wird sie so seit 1984, als sie mit ihrem Ehemann die Traditionskneipe „Zum Itze“ am Neumarkt übernahm. „Im Laufe der Jahre ist es immer weniger geworden, auf dem Markt und bei uns“, sagt die 76jährige, die nach dem Tod ihres Mannes vor zwei Jahren allein hinter dem Tresen steht.
Seit ihrer Eröffnung um 1900 hat die Schänke bessere Zeiten gesehen. Schnell wurde sie zweite Heimat für Hafenarbeiter, Matrosen, und Kapitäne. Es war die Zeit des legalen und illegalen Handels in Ruhrort.
Spediteure, Schiffseigner und Schiffer feilschten auf offener Straße um Frachten, Löhne und Aufträge. Arbeiter kamen aus dem benachbarten Holland oder Belgien, heuerten in Ruhrort an oder siedelten gleich ganz über. Ruhrort boomte.
Mit der Eröffnung der Schifferbörse im Jahr 1901 sollte der Handel von der Straße geholt und illegale Kungeleien unterbunden werden.
Es geht bergab
Ein erster Rückschlag dann in den 1950er Jahren. Auf dem Rhein wurde die Schleppschifffahrt weitgehend eingestellt, man setze fortan auf die weniger personalintensive und kostengünstigere Schubschifffahrt. Dennoch bestimmte der Hafen weiterhin das Leben.
Auch „Zum Itze“ war bis in die 1980er Jahre eine Schifferkneipe. „In unserer Telefonzelle wurden Geschäfte abgewickelt und im Regal daneben die Post für die Schiffer gelagert“, erzählt Frau Itze. Eintöpfe hat sie für die Gäste gekocht, bis sich das irgendwann nicht mehr gelohnt hat.
Aus der legendären Telefonzelle ist Stauraum für Staubsauger und Putzmittel geworden, die Glasvitrine beherbergt Schiffsmodelle statt Briefe. Optisch jedoch scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Historische Fotos unter der Decke erinnern an den lebendigen Hafenort, das wilde Konglomerat aus Schifferutensilien sind Requisiten aus besseren Zeiten.
Geblieben sind einige Stammkunden, die Frau Itze die Treue halten und fast jeden Tag vorbeischauen. Man kennt sich und achtet aufeinander; Lebensgeschichten, über Jahre beim Bier an der Theke erzählt, schweißen zusammen.
„Zu Fußballspielen, dem jährlichen Hafenfest und Karneval ist es hier voll wie früher“, sagt Wirtin Verbeck, „dann unterstützt mich meine Tochter. Doch ansonsten ist es ruhig“.
Schimmi ohne Ende
Vorbei auch die Zeiten in denen Ruhrort als das St. Pauli des Ruhrgebiets galt. Zwar kursieren noch immer Geschichten um die fromme Tante Olga, die in der Fabrikstraße eine Beat- und Rock-Kneipe betrieb und stundenweise Zimmer vermietete, doch zu sehen ist davon nur noch eine säuberlich restaurierte Fassade.
Letztes, bundesweit bekanntes Raubein war Götz George, alias Tatort-Kommissar Horst Schimanski, der in den 1980er Jahren in Ruhrort drehte. Auch bei Frau Itze.
Tatortfans buchen heute Stadtführungen, die an die Drehorte führen. Ob zu Fuß, per Rad oder Motoryacht, Schimmis Erbe wird konserviert und kann bestaunt werden. Eine Straße hat man inzwischen nach ihm benannt, in seiner Stammkneipe „Zum Anker“, die heute „Café Kaldi“ heißt, erinnern Schimmi-Jacke und Currywust auf der Speisekarte an den Kommissar.
Kreativmotor Kulturhauptstadt
Als 2010 Essen und das Ruhrgebiet europäische Kulturhauptstadt wurden, setzte der Ruhrorter Konzern Haniel alles daran, den Hafen als Kulturhafen europaweit bekannt zu machen.
Zahlreiche Veranstaltungen fanden statt, vor allem aber wurde mit dem Kreativquartier Ruhrort eine Plattform für Künstler, Kulturschaffende, Bürger und Unternehmen geschaffen, die ein gemeinsames Ziel hatten: einen lebens- und liebenswerten Bezirk zu schaffen und eine neue Kreativszene anzusiedeln.
Von Anfang an unterstützte Haniel das Projekt und bot der Initiative mit dem Kauf des Gemeindehauses Ruhrort im Jahr 2012 eine Heimat mit Veranstaltungsräumen.
Malermeister Dieter Siegel-Pieper war von der ersten Stunde dabei. Als überzeugter Ruhrorter, der den Malerbetrieb seiner Familie in der dritten Generation führt, kennt er die wechselvolle Geschichte des Bezirks. Studiert hatte er Bildende Kunst in Hamburg, doch als er das Geschäft von seinem Vater übernehmen sollte, ging es zurück nach Ruhrort.
Geblieben ist die Begeisterung für die Künste. Der heute 76jährige ist nicht nur leidenschaftlicher Kunstsammler, sondern zeigt mit seinem Bananenhaus auch Kunst am Bau.
„2001 habe ich auf der Art Basel den Kölner Graffitikünstler Thomas Baumgärtner kennengelernt und schnell entstand die Idee, etwas Farbe in die Straße zu bringen“, erzählt er.
Also wurde Baumgärtner angeheuert, die Fassade mit seinen berühmten Bananen zu verzieren. „Damals war das ein Aufreger, doch als die Fassade nach drei Tagen fertig war, gab es sogar einen Festakt mit Bürgermeister zur Einweihung“. Heute gehört das Bananenhaus zu den Sehenswürdigkeiten in Ruhrort.
In den noch unsanierten Seitenstraßen ist das Engagement des Kreativquartiers zu sehen. Kleine Galerien öffnen und Künstler verlegen ihre Ateliers in leerstehende Ladengeschäfte. Theater- und Musikfestivals, Kunstproduktionen und Lesungen sind inzwischen etabliert und erobern den öffentlichen Raum. Es herrscht Aufbruchstimmung in Ruhrort.
Das Vakuum, durch die Krise der Schwerindustrie entstanden, soll jetzt durch Kultur gefüllt werden.
Zum 300. Hafengeburtstag hat die Duisburg Hafen AG Ruhrort eine Markus Lüpertz-Skulptur spendiert.
Die zehn Meter hohe Bronze-Büste heißt „Das Echo von Poseidon“ und wurde kürzlich von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder auf der Mercatorinsel vor 200 Gästen enthüllt. Ruhrorter waren nicht geladen.
Der Meeresgott Poseidon soll die ankommenden Schiffe begrüßen, so die Idee. Möge er es auch weiter gut meinen mit Ruhrort.
Zeigt den Flusspegelstand an und ist Wahrzeichen von Ruhrort
Museumsschiff „Oscar Huber“ aus dem Jahr 1922 liegt im Ruhorter Vinckekanal und ist zu besichtigen
Nach dem berühmten Tatort-Kommissar wurde in Ruhrort eine Gasse benannt
In der Traditionskneipe "Zum Itze" wird die Zeit der Schifffahrt wieder lebendig
In dieser Telefonzelle wurden Geschäfte abgewickelt
Tante Olgas Tanzlokal in der Ruhrorter Fabrikstraße ist heute ein Wohnhaus
Malermeister Dieter Siegel-Pieper engagiert sich für die lebendige Kunstszene in Ruhrort
Ehemals „Zum Anker“ und Stammkneipe von Tatort-Kommissar Schimanski
Zum Hübi, Dammstraße 27, 47119 Duisburg
Außenterrasse mit Hafenblick, Eventlocation
Sehenswert
Museum der Deutschen Binnenschifffahrt
Untergebracht in einem restaurierten Jugendstil-Hallenbad wird die Schifffahrts-Geschichte von der Steinzeit bis zur Gegenwart auf drei Etagen multimedial und mit detailgetreuen Modellen erzählt.
Am letzten Samstag im Mai findet im Westfälischen Dülmen alljährlich ein Rodeo statt. Das Spektakel ist zum Volksfest geworden und zieht weit über 20.000 Besucher aus dem In- und Ausland an. Tierschützer kritisieren die Veranstaltung schon lange als Quälerei. Auch diesmal wird es Protestaktionen geben.
Es ist der Augenblick auf den alle gewartet haben. Ein herannahendes Donnern ist zu hören, die Erde fängt an zu beben, eine dicke Staubwolke kündigt sie an. Dann galoppieren sie mit Vollgas in die Arena, etwa 400 freilebende Wildpferde mit wehenden Mähnen und fliegenden Hufen.
Die Köpfe weit nach vorne gestreckt drehen sie unter dem Tosen der Zuschauer einige Runden, bevor sie langsam ruhiger werden und sich der Staub über der ungewohnten Szenerie lichtet. Es herrscht Ausnahmezustand im Merfelder Bruch bei Dülmen, jedes Jahr am letzten Wochenende im Mai.
Auf sich gestellt
Es klingt bizarr, mitten in Deutschland, nicht weit entfernt vom dicht besiedelten Ruhrgebiet gibt es ein 400 Hektar großes Naturreservat, in dem Europas einzige Wildpferdeherde beheimatet ist. Ein weitläufiges Wald-, Moor- und Heidegebiet, das dem Gestüt ideale Lebensbedingungen bietet.
Und das mindestens seit 1313, dem Jahr, in dem die Dülmener Wildpferde erstmals urkundlich erwähnt wurden. Dass die Pferde über die Jahrhunderte nicht ganz der menschlichen Besiedlung weichen mussten, ist vor allem den Herzögen von Croÿ zu verdanken. Sie ließen die Tiere einfangen und boten ihnen mit der Wildpferdebahn am Merfelder Bruch eine neue Heimat.
Dort sind sie sich selbst überlassen und finden in Eichen- und Nadelwäldern ausreichend Nahrung und Unterschlupf bei widriger Witterung. Keine Impfung, kein Tierarzt, kein Hufschmid, mit Krankheiten und Geburten müssen sie ohne menschliche Hilfe zurechtkommen und unterliegen damit dem natürlichen Selektionsprozess.
Hengste müssen raus
Einmal im Jahr hat die Herde dann doch engeren Kontakt zu den Menschen. Die einjährigen Hengste werden eingefangen, um das unkontrollierte Wachstum der Population sowie Inzucht und Rangkämpfe zu vermeiden.
Nur ein Deckhengst darf in der Herde bleiben. Im Anschluss werden die robusten etwa 1,35 Meter großen Ponys als Freizeitpferde versteigert. Die Fänger sind allesamt junge Männer aus der Region, traditionsgemäß in schmucken blauweißgestreiften Hemden und roten Halstüchern bekleidet.
Unter Applaus ziehen das sie in die Arena ein. Dann ist Kraft, Mut und Geschicklichkeit gefragt, denn den Tieren wird bloßen Händen, ohne weitere Hilfsmittel ein Halfter umgelegt. Kein leichtes Unterfangen, die scheuen Hengste denken gar nicht daran, sich kampflos abführen zu lassen, werfen ihre Vorderläufe in die Höhe und versuchen auszubrechen. Also wird jeweils ein Tier separiert, in eine Nische gedrängt, mit geschulten Handgriffen zu Fall gebracht.
Tierschützer protestieren
Genau gegen dieses Procedere protestieren die Tierschützer. Die Verletzungsgefahr sei zu groß, außerdem setzte die gesamte Veranstaltung die sensiblen Tiere unter enormen Stress. Ganz anders sieht das der Herzog von Croÿ als Veranstalter. Er lässt die Fänger vorab von einer Tierärztin schulen, sodass sie die besonders empfindlichen Stellen der schützen können. Außerdem würden die Einnahmen der Veranstaltung für die laufenden Kosten der Herde benötigt. Und natürlich habe diese über 100jährige Fangart inzwischen eine regionale Tradition.
Am Münsterländer Rodeo scheiden sich die Geister. Es ist ein Kampf zwischen Tradition und Tierschutz. Sicher ist, dass die ansonsten eher verschlafene Region von dem Event profitiert. Die Hotels sind lange vorab ausgebucht und die Pferderegion Münsterland profitiert von einem Imagegewinn. Die Frage ist wie lange noch?
Wieder sind Demonstrationen angesagt. Die Tageszeitung Ruhnachrichten hat in einer Leserabstimmung gefragt, ob der Wildpferdefang verboten werden solle. Knapp 40 Prozent sprachen sich dafür aus. Doch auch in diesem Jahr wird die Erde beben, wenn die Herde nach dem Rodeo in vollem Galopp aus der Arena zurück in die Freiheit stürmt. Zurück bleibt nur eine riesige Staubwolke.
INFOS
Die Wildpferdebahn liegt rund zwölf Kilometer westlich von Dülmen an der Rekener Straße, die von Dülmen Merfeld nach Borken führt. Fünf Kilometer westlich von Merfeld gibt es eine beschilderte Zufahrt. Von Anfang März bis zum 1. November ist die Wildpferdebahn bei gutem Wetter an Wochenenden und Feiertagen von 10 bis 18 Uhr für Besucher geöffnet. Besuchergruppen können nach vorheriger Anmeldung an einer Führung teilnehmen.
Fotos: Bettina Hagen
Gstaad • Diskreter Charme im Berner Oberland
Im Berner Oberland, rund um den kleinen Ort Gstaad, trifft sich die Prominenz in edlen Chalets. Die Diskretion der Bewohner gepaart mit bäuerlicher Tradition machen die Region zum idealen Rückzugsort. Nicht nur für Promis.
Ein Hauch von Kuhdung liegt über dem kleinen Bahnhof von Gstaad, weht den anreisenden Gästen in die Nase und lässt keinen Zweifel offen, dass man sich in ländlicher Umgebung befindet. Vor den teuren Chalets der betuchten Prominenz, die sich im Berner Oberland ein Stelldichein gibt, macht er ebenso wenig halt wie vor den Garderoben der Edelboutiquen auf der verkehrberuhigten Einkaufstrasse des Ortes.
Der exklusive Kurort Gstaad steht zu seinen bäuerlichen Wurzeln. Trecker und Gummistiefel gehören hier ebenso zum Straßenbild wie Lamborghinis mit Golfschlägern.
Die Statistik bestätigt den ersten Eindruck: Auf 7000 Einwohner kommen 7000 Rinder und während der Saison rund 10.000 Besucher. Offenbar eine Mischung die ankommt, denn die meisten Besucher sind Stammgäste und verbringen bereits seit Jahren ihren Urlaub in der Region.
Rückzugsort für Promis
Gstaad mit seinen umliegenden Dörfern gehört nicht in die Kategorie der quirligen Jet-Set-Orte, sondern bietet Ruhe und Abgeschiedenheit. Nicht sehen und gesehen werden ist hier die Devise, sondern leben und leben lassen. Diskretion ist oberstes Gebot. Fast mürrisch reagieren Einwohner auf die Frage, welche Stars hinter den verzierten Holzfassaden der Chalets residieren.
Prominente Namen wie Roger Moore, Liz Taylor, Julie Andrews standen seit jeher auf der Gästeliste, aber heute? „Kein Kommentar“, heißt es dann und man hält sich daran. Meistens, so wird erzählt, erfahre man von der Anwesenheit hochkarätiger Berühmtheiten erst, wenn diese längst schon wieder abgereist seien.
Mekka für Gourmets
Weniger rar dagegen macht sich das nach der Region benannte Simmentaler Rind. Es ist die Spezialität der Gegend und für den ersten sinnlichen Eindruck verantwortlich.
Erfreulicherweise auch für den zweiten, denn auf den Speisekarten der Restaurants trifft man es wieder, allerdings inkognito. Perfekt zubereitet als Côte de Boeuf du Simmental, Filet de bœuf Simmental oder Saanenländer Trockenfleisch ziert es mit Beilagen versehen die angewärmten Teller und versetzt die Geschmacksnerven in Euphorie.
So auch bei Robert Speth, dem deutschen Zuwanderer aus Baden. Stolze 18 Punkte hat er sich in seinem Restaurant Chesery im Dorfzentrum von Gstaad erkocht und ganz nebenbei auch noch einen Michelin-Stern. Damit ist er ist Spitzenreiter der Region.
Und das will einiges heißen, denn die Konkurrenz ist stark. Nirgendwo in der Schweiz ist die Dichte an mit GaultMillau-Punkten ausgezeichneten Köchen höher als in Gstaad-Saanenland.
Verrückt nach Weißwurst
Robert Speth ist der Erfolg nicht zu Kopf gestiegen. Er ist ein Chefkoch zum Anfassen, versteckt sich nicht hinter Töpfen, sondern berät seine Gäste im elegant-rustikalen Gastraum persönlich und nimmt Sonderwünsche entgegen. Ein zurückhaltender Mensch, ebenso wie seine Kochkunst, schnörkellos und ohne viel Brimborium.
„Ich bin ein Purist auf dem Teller und will mit einer einfachen Zubereitung den Grundgeschmack der Produkte hervorheben“, beschreibt er seinen Stil. Ein richtig guter Braten, sei für einen Koch eine besondere Herausforderung, ist seine Philosophie. Berühmt aber ist der Schwabe für seinen Wolfsbarsch in Salzkruste. „Der Trick ist, dass Eiweiß für die Salzkruste vorher aufzuschlagen, damit die Kruste nicht knochenhart wird“, verrät er Gästen, die nach Kochtipps fragen.
Seit 1991 führt er mit Ehefrau Susanne auch das Restaurant des Golfclubs Gstaad-Saanenland. Dort ist die Küche etwas deftiger und auch traditionelle deutsche Einflüsse sind zu finden. „Ich habe die Weißwurst hier salonfähig gemacht“ erzählt der Sternkoch, „anfangs haben die Schweizer sich geweigert blasse Würstchen zu essen. Heute sind sie ganz verrückt danach“.
Höhere Töchter und Söhne
Berühmt ist die Region für ihre zahlreiche Freizeitangebote. Im Winter ist Langlauf, Alpinski und Snowboard fahren angesagt, im Sommer Wandern, Klettern und Radfahren. Und die Outdoor-Aktivitäten haben Tradition.
Mit dem Bau der Bahnstrecke von Montreux am Genfer See in das Berner Oberland im Jahr 1904 wurde der bis dahin verschlafene Landstrich mit der Außenwelt verbunden.
Zeitgleich entschied sich das elitäre Privatgymnasium Le Rosey seinen Wintercampus nach Gstaad zu verlegen. Mit den Schülern kamen die Eltern, die ihre Sprösslinge besuchten. Damit hielt der Tourismus Einzug in der Region und die ersten Luxushotels wurden gebaut.
Panorama-Strecke
Die Bahnlinie gibt es noch immer und wird vom „Golden Pass Panoramic“ befahren, ein Zug mit bequemen Sesseln und großen Panoramafenstern. Wie im Kino rauscht die Landschaft im Großformat vorbei. Besucher aus Richtung Bern erwischen den Zug in der Ortschaft Zweisimmen. Von dort an geht es stetig bergauf. Die Fahrt führt durch Dörfer mit properen Bauernhäusern, deren verzierte Holzfassaden aussehen, als wäre sie gerade frisch gestrichen worden.
Im Sommer hängt üppiger Blumenschmuck an den Balkonen, beinahe so, als würden die Dorfbewohner im Wettkampf um die prächtigste Geranienstaude stehen. Im Winter, wenn die Dörfer eingeschneit sind, liegt eine dicke Schneedecke auf den Giebeldächern und lange Eiszapfen hängen an Dachrinnen und Fensterläden herunter.
Die Strecke führt durch Waldabschnitte, über sprudelnde Gebirgsbäche, vorbei an einsame Höfen, Gaststätten und kleinen Orten mit illustren Namen wie Bahnhöfli oder Chlösterli. Eine Fahrt, wie eine Zeitreise durch eine unwirkliche, saubere und aufgeräumte Bilderbuch-Landschaft.
Fotos: Gstaad Saanenland Tourismus und Bettina Hagen
Aquitanien trumpft auf mit frischen Produkten von der Küste und aus dem Hinterland. Bei dem großen Angebot fällt die Auswahl jedoch nicht leicht.
Cannelé
Kleine karamellisierte Kuchen mit leckerem Vanillegeschmack unter der Kruste. Eine Spezialität aus Bordeaux.
Fisch-und Meeresfrüchte
Direkt am Atlantik sind sie frisch und schmecken am besten. Das Angebot ist riesig und reicht von Miesmuscheln (moules) bis zur Seezunge (sole), von Jakobsmuscheln (coquilles) über Seewolf (loup de mer) bis zum gegrillten Hummer (hommard grillé).
Lamm aus Pauillac
Es ist das Wahrzeichen der Gegend und berühmt für seinen feinen Geschmack. Noch im 19. Jahrhundert wurde es zum Weiden in die abgeernteten Weinberge getrieben. Heute werden die Lämmer auf den Wiesen der Gironde gezüchtet.
Lillet
Es ist der Lieblingsaperitif der Bordelaiser, ein weißer oder roter Likörwein, mit Zitrusschalen und verschiedenen Kräutern.
Steinpilze aus Bordeaux
Bekannt ist die Region für ihren Reichtum an Pilzen, der Steinpilz jedoch gilt als der König. Er wird häufig im Omelette oder als Beilage zum Entrecôte serviert.
Schinken aus Bayonne
Was den Spaniern der Serrano-, den Italiener der Parmaschinken, ist für die Franzosen der Schinken von Bayonne. Sein feines Aroma verdankt er dem Salz aus dem Becken der Adour und der langen Reifung in Trockenkammern.
Stopfleber (foie gras)
Die Gegend ist berühmt für ihre Gänse- oder Entenleberterrinen. Meistens wird sie als Vorspeise mit Salat und Baguette gereicht. An den Tierschutz darf man beim Verspeisen allerdings nicht denken. In vielen europäischen Ländern ist das Stopfen von Geflügel bereits verboten.
Trüffel
Der mythenumwobene Pilz wird auch als schwarzer Diamant bezeichnet. Er findet sich häufig an den Eichen im Périgord, doch wo genau weiß niemand. Im Herbst wird mit Trüffelschweinen jagt auf ihn gemacht.
Wein
Sie sind das Aushängeschild der französischen Weinproduktion – die guten Tropfen aus dem Bordeaux. Typisch sind die trockenen und vollen Rotweine aus Regionen wie Médoc, Saint-Émilion, Pomerol.
Ganz im Südwesten Frankreichs liegt die Region Aquitanien mit seiner Hauptstadt Bordeaux. Dank der Lage am Atlantik ist sie besonders bei Wassersportlern und Freunden fangfrischer Meeresfrüchte beliebt.
Vom Flugzeug aus betrachtet, sieht die französische Atlantikküste von Aquitanien aus, wie mit einem Lineal gezogen.
Schnurgerade führt ein insgesamt 270 Kilometer unverbauter langer Sandstrand vom Mündungsdelta der Gironde bis zur spanischen Grenze. Beinahe langweilig, auf den ersten Blick. Beim näheren Hinschauen jedoch bietet die Gegend eine Vielseitigkeit, die Erstaunen lässt. Der raue Atlantik hat mit seinen konstanten Winden im Laufe der Jahrtausende eine breite Dünenlandschaft geschaffen, die ihresgleichen in Europa sucht.
Paradies für Surfer
Sand und Dünen sind freilich nichts, was die junge internationale Surfergemeinde begeistert, die sich alljährlich im mondänen Seebad Biarritz trifft. Wo früher die gekrönten Häupter Europas die Sommerfrische verbrachten, Kaiserin Elisabeth und der Herzog von Windsor am Strand flanierten, in den fünfziger Jahren sich Hollywoodstars wie Frank Sinatra, Rita Hayworth und Bing Crosby die Klinke in die Hand gaben, dominieren jetzt braungebrannte und athletische Körper junger Menschen.
Morgens um sechs sieht man sie erwartungsvoll auf den Atlantik schauen, um ja die richtige Welle nicht zu verpassen. Davon jedoch gibt es in Biarritz genügend. Nicht ohne Grund werden dort jährlich internationale Wettbewerbe ausgetragen. Der Ort ist zur Pilgerstätte für Surfer geworden, denen die hohen und launischen Atlantikwellen jeden Tag neue Herausforderungen bieten.
Wandernder Sandriese
Kein Besuch der französischen Atlantikküste sollte ohne einen Abstecher zur Bucht von Arcachon enden. Allein schon, um die spektakuläre Düne von Pilat zu bewundern, die den Atlantik von der Bucht trennt. Durch eine Enge von dreieinhalb Kilometern fließt frisches Meereswasser in das Becken.
1978 wurde der Sandriese von Pilat mit seiner stattlichen Höhe von 118 Metern zur höchsten Düne Europas gekürt. Stoisch-ruhig liegt der 2700 Meter lange Koloss im Wasser und leuchtet in der Sonne. Doch der Schein trügt. Unaufhörlich reichert der Wind die Düne an der Ostseite mit neuem Sand an. So dringt sie jedes Jahr etwa vier Meter in Landesinnere vor und begräbt dabei eine Unzahl an Strandkiefern unter sich. An der Westseite hingegen zehren Wind und Ozean an ihr.
Wer bei guter Kondition ist, sollte sich in die Karawane einreihen und die Düne erklimmen. Die grandiose Aussicht über die Bucht von Arcachon entschädigt über den schweißtreibenden Aufstieg. Fischerboote sind nur noch bunte Punkte auf dem blauen Wasser und selbst der Leuchtturm in der Spitze der Halbinsel Cap Feret wirkt plötzlich klein. Nach dem Abstieg, wenn der feine Sand aus den Ritzen der Schuhe entfernt ist, wäre es eine gute Gelegenheit, sich im Austerndorf L’Herbe zu stärken.
Austern ohne Ende
Das Becken von Arcachon ist die Heimat der französischen Auster. Im Wasser sieht man großflächige Austernbänke, die von ihren Eigentümern von bunten Barkassen aus gepflegt werden.
Serge Castaing ist einer von ihnen. Jeden Tag fährt er in die Austernbänke und prüft, ob wieder neue Austernbabys geboren sind. Sie werden dann zur Aufzucht in die Normandie oder in die Bretagne geschickt. Nur ein Teil bleibt im Aquitaine. „Austern passen sich schnell an ein neues Klima an“, erklärt Castaing. „Wenn sie in der Bretagne heranwachsen, bekommen sie eine andere Form und einen anderen Geschmack“.
Immerhin: 80 Prozent der gesamten französischen Glibberproduktion wurde im Becken von Arcachon geboren. Castaings Familie züchtet Austern in der dritten Generation. „Leicht ist es nicht“, gesteht er, „wenn ich die kleine Degustation nicht hätte, würde ich nicht über die Runden kommen“. Doch er liebt seinen Beruf und verzehrt täglich ein halbes Duzend der kleinen Schalentiere.
Ebenso wie sein 80jähriger Vater, der gelegentlich aushilft, sich aber lieber mit den Gästen auf der Terrasse unterhält. Nichts gehe bei ihm über Austern, sagt er, sie seien gesund, deshalb wäre er heute noch so fit. Und sie stärken die Manneskraft, davon ist er überzeugt. Bewiesen hat das allerdings noch niemand.
Zwei wie Jod und Schwefel • Das Wunder von Bad Wiessee
Das einst mondäne Bad Wiessee am Tegernsee kämpft wie viele andere Kurorte um Gäste. Doch im scharfen Wettbewerb hat Bad Wiessee ein Ass im Ärmel: Seit mehr als hundert Jahren sprudelt dort Deutschlands stärkste Jod-Schwefel-Quelle.
Wer die Lobby des Jod-Schwefel-Bads in Bad Wiessee betritt, wird den ersten Eindruck so schnell nicht vergessen. Ein beißender Schwefelgeruch schlägt einem entgegen, der an faule Eier erinnert und erste Fluchtgedanken auslöst. „Man gewöhnt sich daran“, sagt der technischer Leiter Lorenz Biller. „Ich rieche es gar nicht mehr“.
Und tatsächlich, nach und nach verflüchtigt sich der Geruch, je weiter man durch das Gebäude geht. Seit über 20 Jahren arbeitet Biller in der Anlage und kennt sie wie seine Westentasche. Oft führt er interessierte Gäste herum, zeigt ihnen die Therapieräume und erklärt, weshalb sich der entzündungshemmende Schwefel und das durchblutungsfördernde Jod gut für die Linderung von Haut- und Augenleiden, bei Atemwegserkrankungen und Rheuma eignen.
Frisch gezapft
Auf besonderen Wunsch darf man sogar einen Blick in den Förderturm werfen. Tag für Tag wird dort aus 630 Meter Tiefe 19 Grad warme Sole mit einem ph-Wert von 8,2 bis 8,5 ans Tageslicht gepumpt. Durch luftdichte Pipelines fließt sie in Container, um für die medizinischen Anwendungen frisch abgezapft zu werden.
Der außergewöhnlichen Jod-Schwefel-Konzentration ist es zu verdanken, dass der Ort schon 1922 mit dem Prädikat „Bad“ ausgezeichnet wurde. Seitdem wird die Heilkraft der jod-, schwefel- und fluoridhaltigen Natrium-Chlorid-Quellen für die Therapie genutzt.
Das Wunder von Bad Wiessee
Im frühen 15. Jahrhundert wurde der Tegernsee für seine Bodenschätze bekannt. Damals machte ein Benediktinermönch auf dem See eine seltsame Entdeckung. Dunkel-glänzend war das Wasser an einigen Stellen, als ob eine zweite Schicht darauf läge. Er ging der Sache nach und seine Untersuchungen führten ihn an das Westufer des Sees, in die Nähe des Ortes Wiessee. Dort stieß er auf eine Ölquelle, die für die Verfärbungen im Wasser verantwortlich war. Die Quelle wurde nach dem heiligen Quiriunus, dem Schutzpatron des Klosters benannt.
Schnell schrieb man dem Öl eine besondere Heilkraft zu und gab es unter dem Namen „Oleum Sancti Quirini“ zur Behandlung von Beschwerden an die Bevölkerung ab. Ein gedruckter Beipackzettel informierte über Ursprung und Anwendung.
Und plötzlich war in der gesamten Region von Wunderheilungen die Rede, die die Behandlung mit dem Tegernseer Öl bewirke. Blinde, die plötzlich wieder sehen konnten und andere phantastische Geschichten zogen sogar Menschen aus Südtirol und Böhmen an. Noch bis ins frühe 18. Jahrhundert glaubte man die Heilkraft des Wunderöls. Mit der Aufklärung und der Säkularisation brach eine neue Zeit an, das Öl wurde als profanes Erdöl deklariert, doch nach wie vor als Arzneimittel verkauft.
Kein Texas in Bayern
Um das Jahr 1900 erreichte den holländischen Geschäftsmann Adrian Stoop die Nachricht über die Tegernseer Ölfunde. Er witterte ein Geschäft, kam nach Wiessee und ließ Bohrungen im großen Stil durchführen.
Doch statt auf Öl stieß er in etwa 700 Meter Tiefe auf einen Strudel mit übelriechenden Erdgasströmungen. Durch Zufall hatte er die stärkste Schwefelquelle Deutschlands entdeckt, die Ölquellen hingegen waren versiegt.
Zunächst konnten sich die Einheimischen für den stinkenden Fund nur wenig begeistert. Erst als ein ortsansässiger Arzt nach Untersuchungen die heilendende Wirkung des Wassers erkannte, die Sole professionell gefördert und 1910 die ersten Quellenbäder in Holzbottichen verordnet wurden, schloss man seinen Frieden.
Der Jet-Set reist an
In den nächsten Jahren erlebte der Ort einen rasanten Aufschwung. Ein Badehaus mit zwölf Kabinen entstand und die Zahl der verabreichten Bäder, Inhalationen und Trinkkuren stieg sprunghaft. Selbst in den Jahren des ersten Weltkriegs konnten sich die Anwendungen von 9270 pro Jahr auf 17409 fast verdoppeln.
Seine Blütezeit erlebte der Ort in den dreißiger Jahren. 1935 verzeichnete man bereits 160.000 Behandlungen. Das Badehaus wurde um eine Wandelhalle und einen Theatersaal erweitert, Bad Wiessee avancierte zum mondänen Kurort für Adel, Prominenz und Besserbetuchte.
Jod-Schwefel heute
An einigen Stellen ist er noch zu sehen, der Glanz von damals. Wenn man durch die Wandelhalle spaziert, die jetzt als frei buchbare Eventlocation dient oder auf der breiten Terrasse unter alten Bäumen sitzt und auf den See schaut.
Oder, wenn der Blick auf die alten Uhren an den Türaußenseiten der Wannenkabinen fällt, die per Hand knarzend aufgezogen werden und für die Einhaltung der Badezeiten sorgen. Als 2010 anlässlich des 100. Geburtstags das Jod-Schwefel-Bad komplett modernisiert wurde, hat man sie bewusst behalten – aus Tradition.
Badet der Kurgast heute in der gräulichen Jod-Schwefel-Sole, liegt er in einer speziell geformten Wanne, die als besonders kreislaufschonend gilt. Oder er sitzt im Sprühbad und lässt warmem Jod-Sole-Dampf auf sich wirken. Ein leichter Geruch von Paraffin schleicht durch die Kabinen und erinnert daran, dass Bad Wiessee ja ursprünglich die bayrische Antwort auf Texas werden sollte.
Tatsächlich sind es Rückstände des Erdöls, die mit der Sole gefördert werden und auf der Haut einen angenehmen Film hinterlassen. 20 Minuten dauert ein Bad, dazu kommt die Nachruhzeit von einer halben Stunde, zu der man noch feucht in Laken und Decke eingewickelt wird.
„Das ist wichtig“, sagt Betriebsleiter Kaiser, „denn in dieser Zeit wird der Schwefel weiter vom Körper aufgenommen“. Nach sechs bis acht Bädern könne man mit einer nachhaltigen Wirkung rechnen.
Ehrgeizige Pläne
Doch mit dem verblassten Charme der Vergangenheit kann es ein schnelles Ende haben, denn es wird derzeit über eine komplette Neukonzeption des gesamten Areals diskutiert. Investoren wurden gesucht, entstehen sollen ein neues Jodbad sowie ein Hotelkomplex mit angeschlossenem Medizin-Zentrum. Der erste Spatenstich ist für Mitte 2016 geplant.
Es wirkt ein bisschen als würde das Jod-Schwefel-Bad derzeit aus einem Dornröschenschlaf erwachen und sich wieder auf seine Stärken besinnen. Werden jetzt die Weichen richtig gestellt, kann es ein Schritt in eine bessere Zukunft sein.
Wenn engagierte Bauern mit Qualitätsprodukten gegen internationale Konzerne kämpfen kann das auch gut gehen. Wie bei der Naturkäserei TegernseerLand in Kreuth, die mit ihren Heumilchprodukten nach anfänglichen Turbulenzen 2015 erstmals deutliche Überschüsse erwirtschaftet hat.
Es klingt wie die Geschichte von David gegen Goliath. Doch die Helden sind diesmal eine Handvoll ehrgeiziger Milchbauern aus dem bayrischen Alpenvorland, die es leid waren, den Dumpingpreisen am internationalen Milchmarkt tatenlos zuzusehen. Zudem ärgerte sie, dass die Milch ihrer Kühe, die den Sommer grasend auf der Weide verbrachten, im internationalen Handel den gleichen Stellenwert hatte, wie die von Tieren aus Massentierhaltung.
Es reifte der Gedanke, die Vermarktung ihrer Milch selbst in die Hand zu nehmen und eine Käserei mit hochwertigen, regionalen Produkten zu eröffnen. „Als Spinnerte wurden wir damals in der Region belächelt“, sagt der Landwirt und heutige Vorstandsvorsitzende der Naturkäserei Hans Leo.
Doch er und sein Kollege Josef Bogner ließen nicht locker, leisteten mit Kraft und Engagement Überzeugungsarbeit, die im Jahr 2007 mit der Gründung einer Genossenschaft belohnt wurde. „Klein waren wir damals“, erzählt Leo, „hatten nur acht Mitglieder“. Aber es reichte, um einen Schneeballeffekt auszulösen.
Mehr und mehr Landwirte kündigten ihre bestehenden Verträge mit den Milchkonzernen, insgesamt 22 Betriebe sind heute mit an Bord. Ein mutiger Schritt, denn die Käserei verarbeitet ausschließlich Heumilch und das bedeutete für einige die konsequente Umstellung ihrer landwirtschaftlichen Arbeit.
Traditionelle Fütterung
In den Alpenländern hat die Fütterung mit Heu Tradition. Den Sommer verbringen die Kühe auf Wiesen, Weiden und Almen und ernähren sich ausschließlich von frischen Gräsern, Blumen und Kräutern. Im Winter werden sie mit getrocknetem Heu und mineralstoffhaltigem Getreideschrot gefüttert. Bei der Heufütterung wird bewusst auf Gärfutter, die sogenannte Silage, verzichtet.
Mit gutem Grund: Silage hat einen höheren Anteil an Clostridiensporen, die, wenn sie über die Milch zum Menschen gelangen, vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern heftige Probleme im Darmtrakt auslösen und im schlimmsten Fall zum Tod führen können. Doch in der Heumilch kommen Clostridiensporen so gut wie gar nicht vor und müssen daher auch bei der späteren Käsezubereitung nicht durch chemische Konservierungsmittel oder aufwendige Zentrifugalentkeimung entfernt werden.
Mehr Omega-3-Fettsäuren
Besonders im Winter ist die Fütterung mit Heu eine Herausforderung und bedarf einer guten Planung. Im Sommer und Herbst legen die Bauern den Proviant für die kalte Jahreszeit an, mähen, trocknen und wenden im Akkord. Drei Mähschritte sind dazu auf den Wiesen nötig und alles muss in 140 Tagen erledigt sein.
Das ist aufwendig, kostet Zeit und erfordert große Lagerkapazitäten. Aber es lohnt sich, denn die Qualität des Heus schlägt sich in der Qualität der Milch nieder.
Das wurde unlängst wieder in einer Studie der Universität für Bodenkultur in Wien bestätigt. Demnach enthält Heumilch rund doppelt so viele wertvolle Omega-3-Fettsäuren und konjugierte Linolsäuren (CLA) wie konventionell produzierte Milch. Ein klarer Punktsieg für die traditionelle Fütterung.
Gewinn für die Region
Wenn die Sonne scheint und die Temperaturen es zulassen, ist der Biergarten der Naturkäserei bis auf die letzten Plätze belegt. Gäste und Einheimische genießen beim kühlen Bier den Blick auf den Hirschberg und gönnen sich eine Brotzeit mit lokalen Rohmilchspezialitäten.
Die Eröffnung der Käserei war in der Region ein Ereignis und es ist zu spüren, dass die Menschen am Tegernsee hinter dem Projekt stehen, entspricht es doch ohnehin dem Trend nach regionalen Produkten. Viele Besucher kommen, um die Produktion von Heumilchkäse zu beobachten. Transparenz ist in der Genossenschaftsphilosophie als Regel fest verankert und so wurde im Restaurant Probierstüberl eine große Glaswand eingesetzt, die den Blick in die Produktionshalle erlaubt.
Produktion in Handarbeit
Dort stehen sie, die Käsemeister, vor einem Kupferkessel mit 5000 Litern Heumilch, die bei 50 Grad Celsius erwärmt wird. Man kann sehen, wie sie nach und nach Milchsäurebakterien, Lab und Salz hinzugegeben und je nach Sorte auch Kräuter und Gewürze. Unter ständigem Rühren wird die Milch langsam fester, dann zur Gallerte und später zum Käsebruch.
Wenn der Käsemeister die Konsistenz für gut befindet wird die Masse in Käseformen gepresst. Anschließend gibt es ein Vollbad in einer Salzlake, um die Rindenbildung einzuleiten. Zur Reifung geht es in den Keller, in dem riesige schwere Laiber in den Regalen gestapelt sind und täglich mit Salzlauge geschmiert und gewendet werden. Bis zu drei Monate lagern sie dort, bei einer Temperatur von etwa 14 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 95 Prozent.
Lang ersehnter Aufschwung
Nach wirtschaftlich turbulenten Anfangsjahren konnte Hans Leo auf der Generalversammlung 2015 Erfreuliches verkünden. Der Gesamtumsatz an Heumilch-Produkten legte mit einem Plus von 16 Prozent zum Vorjahr deutlich zu und beläuft sich auf 4,2 Millionen Euro. Bei den Milchrebellen stehen die Zeichen jetzt auf Qualitätssicherung und Expansion. Mit dem Ergebnis konnten in diesem Jahr auch die bundesweit 1461 Mitglieder der Genossenschaft zufrieden sein – wenngleich sie wohl noch einige Jahre auf eine Gewinnausschüttung warten müssen. Doch der Anfang ist gemacht.
Aufmacherfoto: Christoph Konitzer/pixelio.de Fotos im Text: Naturkäserei TegernseerLand eG
Foto Rind: Bettina Hagen
INFOS
Naturkäserei TegernseerLand eG
Reißenbichlweg 1
83708 Kreuth am Tegernsee www.naturkaeserei.de
Führungen für Einzelpersonen jeden Montag um 13:00 Uhr, Gruppen nach Anmeldung
Informationen zur Region: www.tegernsee.com
Steckbrief Beaujolais • Wissenswertes zur Region
Das Beaujolais liegt nördlich von Lyon und gehört geografisch eigentlich zum benachbarten Burgund. Als Weinbauregion ist es jedoch ganz eigenständig.
Geografie
Das Gebiet des Beaujolais ist ein schmaler Landstrich zwischen Lyon und Mâcon, mit einer Länge von rund 55 Kilometern und einer Breite von 15 Kilometern. Östlich wird das Beaujolais vom Fluss Sâone begrenzt, im Westen von den Vorläufern des Massif Central-Gebirges.
Traube
1395 verbannte Philipp der Kühne die damals als „unehrenhaft“ bezeichnete Gamay-Traube zugunsten der Pinot Noir-Traube aus dem Burgunderreich. Fortan wurde sie im südlichen Burgund, dem Beaujolais angebaut. Die Bodenbeschaffenheit der Gegend bietet der Traube ideale Wachstumsbedingungen. Heute wird dort zu beinahe 100 Prozent Gamay angebaut.
Boden
Es gibt verschiedenen Bodentypen im Beaujolais. Im Süden wechseln sich Ton- und Kalkböden mit Sandstein ab. Die Trauben werden ausschließlich zu Beaujolais Nouveau, Beaujolais und Beaujolais Village verarbeitet. Im Norden finden sich vor allem granit- und schieferhaltigen Böden, auf denen die Trauben für die hochwertigen Crus wachsen. Das Erdreich ist mit Eisen und Mangan angereichert und gibt dem Wein den charakteristischen mineralischen Geschmack.
Klima
Gemäßigt, mit einen Temperaturjahresmittel von 11,3 Grad. Im Hochsommer steigen die Temperaturen auf über 30 Grad, im Winter können sie allerdings auf minus zehn fallen.
Sehenswertes
Le Hamenau en Beaujolais in Romanèche-Thorins ist ein Erlebnispark rund um das Thema Wein, gegründet von dem Weingroßhändler George Duboeuf. Besucher erfahren alles über die Herstellung von Wein, Flaschen, Fässer und Korken.